Zeitverlust
Auszug aus dem gleichnamigen Afrikaroman
_____________________________________
Ich rutsche auf dem Fahrersitz herum. Meine Beine kleben in der Schicht
von Dreck, Staub und Schweiß. Beinhaar wird entwurzelt. Es
ratscht wie beim Öffnen eines Klettverschlusses. Was gibt's hier
zu lachen?
Ich will nach der Uhrzeit sehen, will sehen, wieviel Zeit wir schon
verloren haben mit den schlechten Pisten und irritierenden
Wegbeschreibungen dieser Leute, die uns anscheinend nicht ernst nehmen.
Das Zifferblatt ist staubbedeckt. Umständlich beginne ich, das
Glas mit dem Daumen freizuwischen, besinne mich jedoch. "Vielen Dank",
rufe ich dem Witzbold zu, während die Hand schon den Gang einlegt,
ich nachdrücklich ein paar mal Gas gebe und weiterfahre.
Statistisch gesehen befinden wir uns am heißesten Ort
Westafrikas, hatte Maren gestern abend festgestellt. Wir kampierten in
der gelben Savanne, wo wir bei unserer Ankunft weit und breit weder
Dorf noch Menschen gesehen hatten. Plötzlich spuckte der Busch
Kinder aus. Unerklärlich, woher sie kamen und wie sie uns gefunden
hatten. Eine Phalanx aufgerissener Augen verfolgte all unser Tun. Nicht
einmal die Notdurft ließ sich unbeobachtet verrichten. Maren
versuchte, sich auf die Karten zu konzentrieren. Vornübergebeugt
auf dem Klappstuhl fixierte sie die Tabellen, die Dauer der Trockenzeit
und die Durchschnittstemperatur. Jedes Wort, jede Bewegung wurde von
Kichern begleitet.
"Drive! Drive!" Im Rückspiegel sehe ich das nochmals verkleinerte
Abbild des kleinen Mannes, der immer noch steht, wo wir ihn
zurückließen, immer noch winkt. Er wippt dabei
tänzerisch in den Knien und lacht. Ich beschleunige unsere Fahrt
und wende mich wieder der Uhr zu. Für mich ist sie ein
gläsernes Tier, dessen Augen unablässig im Kreis kriechen.
Nachts horche ich oft nach dem beruhigenden Pochen, das die Zeit in
kleine gleichförmige Teile zerlegt. Ich beuge mich vor, um die
Stellung seiner Augen einzufangen. Da übertönt ein gewaltiger
Schlag das Getöse des Motors, das Quietschen und Ächzen der
aus der Verankerung gerissenen Einbauschränke, das Klappern und
Klirren des Kochgeschirrs und der Emaille. Instinktiv umklammere ich
das Lenkradkreuz, unterstütze den Druck mit den Ellenbogen, als ob
meine nachträgliche Aufmerksamkeit die vorhergegangene
Unaufmerksamkeit wett machen könnte. Jetzt, mit dem Schlag,
wirbeln Millionen Staubpartikel auf. Dann steht der Wagen. Ich
verfluche die Straße, den Wagen. Verfluche unsere
Fahrt:Löcher, Gräben, Schotterpiste. LKW-Reifen hatten den
Boden zu Schwellen zusammengeschoben. Darauf zitterte der Wagen bis ins
Mark. Ein ohrenbetäubendes Rattern, das sogar die schwere Batterie
aus der Verankerung riß. Vom Motor kam immer lauteres Scheppern.
Der Temperaturanzeiger vibrierte wild. Die linke Vorderfeder - in der
Sahara gebrochen - ließ das Vorderrad in den Radkasten schlagen.
Ich fuhr den Bus am abschüssigen, rechten Straßenrand
entlang, damit das linke Rad entlastet würde. Nur nicht anhalten,
dachte ich. Solange wir uns noch vorwärts bewegen, ist nicht alles
verloren.Fünf Stunden benötigten wir für hundertsechzig
endlose afrikanische Kilometer. Fünf Stunden verklammert am
Lenkrad. Ununterbrochen suchten meine gereizten Augen die Straße
nach unversehrtem Teerbelag ab. Das Bild flackerte unwirklich, Konturen
verschwammen. Die Sinne gerieten in eine Nervosität, die in
Gleichgültigkeit zu kippen drohte.
"Die Gelder für den Straßenbau in Afrika versickern. Sie
verschwinden bereits seit den sechziger Jahren". Der ergraute
Entwicklungshelfer hatte uns vor zwei Wochen in Niamey erklärt,
daß Ghana einmal das beste Straßennetz in Afrika
besaß. Ein Anflug von Grinsen - oder war es Weinen? - durchzuckte
seine Mundwinkel. Müde ließ er die Eisquader im Cocktailglas
klingen und warf einen verächtlichen Blick über den Rand der
Barterrasse auf den bräunlichen Niger. Dort schlugen Frauen
unermüdlich nasse Wäsche auf Steine. Nicht einmal ihre
schwingenden Brüste erheiterten ihn noch.
Ich sehe nach der Uhr. Sehe, daß sie steht. Trotz der neuen
Batterie. Das Klappern beim Öffnen der Tür klingt weit
entfernt. Unbeholfen suchen unsere Füße Halt. Wir kriechen
heraus aus der Blechummantelung. Dann ist auch schon der kleine Mann
wieder da. Diesmal empört.
"Ohhh-Ohhh!" spuckt er mir entgegen und deutet dabei auf das Loch im
Asphalt, das ich übersehen habe. Er spricht eine einheimische
Sprache, wahrscheinlich Dagbane. Ich spüre nur, daß er mich
zurechtweist, ausschimpft wie ein unartiges Kind, als hätte ich
soeben seinen und nicht meinen Wagen durch dieses Loch gefahren. Gerade
will ich mich unwirsch abwenden, als hinter ihm weitere Zaungäste
auftauchen. Alles, was Beine hat, bewegt sich auf uns zu. Im
Augenwinkel registriere ich Sonnenbrillen, weiße Hemden,
Anzüge, moslemische Kappen, Gewänder. Ich will lieber nicht
hinsehen, lieber jeden Kontakt mit ihnen vermeiden. Am liebsten
wäre ich überhaupt weg. Sie aber, schon mitten drin, fuchteln
mit den Armen und scheinen zu streiten. Ihr Tonfall klingt belehrend.
Die Wogen gehen hoch, und plötzlich packt einer einen anderen an
der Schulter, schiebt ihn theatralisch an das Loch.
"Why, why is our road like this?" Er schüttelt sein Gegenüber und deutet auf die Straße.
"Mein Fehler", versuche ich einzulenken.
"No, it's not you. It's the road."
Ich beuge mich herab, um einen Blick unter den Radkasten zu werfen. Vom
Aufprall hat sich das Fahrgestell in die Karosserie geschoben. Bleche
sind zusammengedrückt, zerknüllt wie Papier. An der
Radaufhängung zeigen sich Risse. Mir stockt der Atem.Im
Rücken erhebt sich Stimmengewirr. Vokale, Nasales, Schnalzen.
Hände legen sich auf meine Schultern, Finger zupfen an mir.
Ungeduldig erhebe ich mich, um einfach einzusteigen und weiterzufahren.
Aber schon kriecht der kleine Mann unters Auto und tastet die
Radaufhängung ab.
"Oh, no problem", versucht er mich zu beruhigen. Er sei Automechaniker.
Ob ich Werkzeug habe? Nein! Auf gar keinen Fall lasse ich ihn an
unserem Wagen rumschrauben. Überall am Straßenrand habe ich
diese "Mechanics" reparieren sehen, Auspuffe an die Karosserien
schweißen, Vergaser im Treibsand zerlegen. Nein, ich habe kein
Werkzeug. Und ich will jetzt fahren!
Unbeirrt kriecht er weiter unter dem Wagen herum. Den Umstehenden
erläutert er dessen Gesundheitszustand. Man folgt andächtig
seinen Diagnosen, gibt ihm Signale, daß er verstanden wird. Jede
seiner Erklärungen setzt Rufe, Zischeln und Schnalzen frei. Man
fährt sich gegenseitig über den Mund, doziert über
Details. Der Mann unterm Wagen korrigiert und beurteilt alles. Einige
Beiträge werden mit Applaus bedacht, andere einfach
niedergeschrien. Manche versuchen sich gleich mehrfach, um doch immer
wieder abzublitzen.
Mein Geduldsfaden droht zu reißen, als eine Frau, den ausladenden
Körper mit einem Tuch umwickelt, dazwischen tritt. Als
Kopfbedeckung im Sinne des Propheten dient ihr eine Duschhaube. Darauf
thront ein Tablett mit Brot. Sofort ist der Brotpreis ein weiterer
Diskussionspunkt, und wieder fällt der Mann unterm Wagen das
letztgültige Urteil: "Good price, good price!""Können wir
jetzt?" frage ich Maren, ganz als ob sie uns aufhält.
Ziegen verirren sich in der Ansammlung und werden mit Fußtritten
verjagt. Nackte Kinder wagen sich heran, bleiben in einigem Abstand
stehen, Rückgrate konkav, Bäuche konvex. Sie verfolgen jede
Bewegung. Aufgeregt rufen sie sich Lautbrocken zu, deuten auf Maren,
deuten auf ihr Gesicht.
"Die meinen den Staub", gebe ich ihr ungeduldig zu verstehen. Sie
lacht, streift mit dem Mittelfinger Staub vom Wagen und malt ihn sich
ins Gesicht.
"No, no!" Sie umringen Maren, angespornt von der Aufmerksamkeit, die
wir ihnen schenken. Sie zeigen auf ihr Gesicht, auf die Arme, rufen in
seltsamem Singsang. Auch die Erwachsenen wenden sich ihr jetzt zu.
"Vielleicht meinen sie deine Nase."
Ein Übersetzer wird vorgeschickt. Ein Mann mit weiten Kleidern,
Sonnenbrille, Goldkettchen, klobigen Ringen an den Fingern. Das steil
nach oben geschnittene Haar sitzt wie ein Kochtopf auf seinem Kopf. Er
nimmt in der Mitte Platz und verschafft sich Respekt. Ich drängele
weiterzufahren. Der Mann unterm Wagen gebietet mit einer Handbewegung
zu warten. Dann spricht er mit dem Übersetzer, wobei er immer
wieder auf Maren zeigt. Das Stimmengewirr verebbt. Nickend und mit
Lauten der Zustimmung folgt der Übersetzer den Worten, um keines
zu verlieren. Dann wendet er sich an uns, bringt sich in Stellung:
"They mean her skin disease."
Was für eine Hautkrankheit könnten sie meinen?
Es dauert, bis wir begreifen - die Sommersprossen.
"Nein!" Jetzt muß Maren lachen. "Das ist keine Krankheit."
Ungläubig nähern sich ihr die Kinder, tasten mit den
Fingerspitzen nach ihrem Arm, zucken bei der Berührung wie
elektrisiert zusammen und bringen sich schnell wieder außer
Reichweite.Wir verabschieden uns lachend. Während wir den Wagen
besteigen, folgen uns erwartungsvolle Augen. Ich stutze, bedanke mich,
winke zum Gruß. Niemand reagiert. Ich lasse den Motor an. Als ich
wieder aufsehe, klebt eine Menschentraube am Wagen, drückt ihre
Nasen platt, späht durch alle Fenster hinein. Ich bin ratlos. Dann
kommt mir ein Einfall. Meine Uhr! Ich nehme sie ab, schüttele sie
und halte sie ans Ohr. Nur das Rauschen meines eigenen Blutes. Kurz
entschlossen gebe ich dem kleinen Mann das leblose Ding, dessen Augen
jetzt reglos stehen.
Sein Gesicht hellt sich auf, als er die Uhr nimmt. Er führt sie
liebevoll ans Ohr. Schon schäme ich mich, ihm etwas so Nutzloses
geschenkt zu haben. Aber sein Mund verbreitert sich zu einem Grinsen.
Er nickt mir zu, drückt die Uhr an sein Ohr, nickt. Und er lacht
wieder los, lacht, bis alle um ihn herum lachen. Einer nach dem anderen
hört an der Uhr und nickt. Läuft sie nun doch? Ich hätte
sie gerne noch einmal, um es zu überprüfen, schlucke aber den
Ärger herunter, lege den Gang ein und fahre weiter. Wie spät
es jetzt sein mag?
© Andreas Kirchgäßner
zurück